© Arved Fuchs
Interview mit Arved Fuchs, Extremabenteurer, Segler und Botschafter des Deutschen Komitees der UN-Ozeandekade
„Die haben gesagt ,Na ja, der spinnt‘, aber das war mir egal.“
In Bad Bramstedt schweift das Morgenlicht übers platte Land, Knicks, Zäune, ein Landwirt hat der HSV-Flagge eine Bleibe auf Lebenszeit gegeben. Zugleich beginnen in der Arktis wegen des Klimawandels bald wieder die Gletscher in den Ozean abzugleiten. Arved Fuchs ist in beiden Welten zuhause, hat im Kajak Kap Hoorn umrundet, hat zu Fuß den Südpol sowie den Nordpol erreicht, ist mit einem Dinghi vom Südpol nach Süd Georgien gesegelt. Ein Interview in einem Zimmer voller Erinnerungen. Aber Arved hat bereits die Sachen gepackt für die nächste Expedition auf der ,Damar Aaen’ im Rahmen seines Ocean Change-Projekts.
Arved Fuchs
Extremabenteurer, Botschafter des Deutschen Komitees der UN-Ozeandekade, Gründer von Ocean Change
Arved Fuchs setzt seine Klima-Expeditionsreihe OCEAN CHANGE auf der Dagmar Aaen im zehnten Jahr fort. Start ist am 1. Juni in Flensburg.
Kiel-Marketing: Von Bad Bramstedt zur Bäreninsel und zu vielen anderen Expeditionen rund um den Globus – was hat dich als jungen Mann damals vom platten Land in Norddeutschland in die Ferne gezogen?
Arved Fuchs: Ich habe nach der Schule eine klassische Ausbildung in der Handelsmarine auf Frachtern einer Bremer Reederei durchlaufen. Andererseits hatte ich schon immer diese Affinität zum Wasser. Meine Großeltern lebten auf Sylt, wo ich einen Teil meiner Kindheit verbracht und in der Nordsee schwimmen gelernt habe. Und mein Onkel ist zur See gefahren. Wenn er nach Hause kam, hat er viele Geschichten erzählt, Seemannsgarn, das war für mich als kleiner Steppke ein tolles Erlebnis. Ich hatte aber auch immer Spaß an Natursportarten, Extremsport, die Polarregionen haben mich immer angezogen. Deshalb habe ich relativ früh angefangen, gezielt zu trainieren, Ausdauersport und so. Da ich wenig Geld hatte, konnte ich es mir nicht leisten, nach Skandinavien zu fahren, um da für die Kälte zu trainieren. Ich bin hier dann ganz pragmatisch rangegangen und habe in Tiefkühlräumen übernachtet.
Du bist hier in Bad Bramstedt zu einem Fleischereibetrieb gegangen und hast gesagt: „Moin, ich bin Arved und würde gern mal in euren Gefrierraum rein für ein paar Tage“?
Ja. Die haben am Anfang schon an meinem Verstand gezweifelt und sich gefragt, ob der noch ganz bei Trost ist. Aber ich war immer sehr überzeugt von dem, was ich machen wollte und konnte das dann auch überzeugend darlegen. Damals hieß das Schockgefrierkammer, die konnte man auf -37 Grad runterregeln. Es ging darum, die Ausrüstung und das individuelle Kälteverhalten zu testen und Erfahrungen zu sammeln. Und die haben mich gewähren lassen.
Die haben den Verrückten einfach machen lassen.
Die haben gesagt „Na ja, der spinnt“, aber das war mir egal. Aber Frachtschiffe, waren nun nicht auf Dauer das, was ich immer machen wollte, ich wollte mein eigenes Schiff haben. Ich habe mit ganz kleinen Booten angefangen, mit Kajaks und Faltbooten und habe damit damals die ersten Expeditionen gemacht, Umrandung Kap Horn und so. Mir war auch klar, wenn du im polaren Raum unterwegs sein willst, dann musst du auch das Handwerk lernen.
Heute machst du deine Expeditionen auf dem Haikutter Dagmar Aaen [Aussprache 'Aaen': mit langem offenen O wie in 'Ordnung'] mit einer Crew. Wie wählst du die Leute aus? Du schickst sie ja nicht mehr vorher in den Kühlraum, und du musst auch schauen, dass es menschlich passt.
Die erste Grönlanddurchquerung mit Hundeschlitten war tatsächlich mit jemandem aus dem Freundeskreis, den ich von der Seefahrt her kannte und wo die Chemie stimmte. Das ist ganz wichtig, dass man sich auf menschlicher Ebene versteht und sich aufeinander verlassen kann. So habe ich dann immer Partner gesucht. Wir bekommen auch immer wieder Anfragen von Leuten, die gerne mitfahren möchten, die meinen, sie könnten sich einkaufen. Aber das ist keine Frage des Preises, bei uns auf dem Schiff gilt Hand gegen Koje. Wir haben über die Jahre einen Pool von Leuten gebildet, die immer wieder kommen, daraus rekrutieren wir unsere Kernmannschaft. Ich möchte aber auch, dass vor allem junge Leute kommen, besonders Frauen. Im Moment bewerben sich mehr Frauen als Männer, und die sind hochkompetent.
„Du brauchst schon besondere Persönlichkeiten an Bord, die sowas machen können.“
Arved Fuchs
An Bord sind verschiedene Generationen, Frauen, Männer, international.
Ja, das stimmt. Man muss natürlich wissen, dass es ein kleines Schiff für maximal zehn Personen ist, da bleibt für den Einzelnen nicht viel Space übrig. Man muss schon ein wenig soziale Kompetenz mitbringen. Und dann musst du bei der Auswahl ein bisschen Erfahrung und Fingerspitzengefühl haben. Oft bewerben sich Leute, die das wirklich gerne machen möchten, aber noch nie in so einer Situation waren, die gar nicht wissen, wie das ist, wenn sie wochenlang keinen frischen Apfel bekommen oder der Freund oder die Freundin richtig lange weg ist. Du brauchst schon besondere Persönlichkeiten an Bord, die sowas machen können.
Meine Erfahrung ist, dass viele an ihren Aufgaben wachsen. Gerade junge Menschen, die im wahrsten Sinne des Wortes ’ihr Schiff’ entdeckt haben und daran gewachsen sind.
Das stimmt, das ist so. Meistens lade ich sie erst einmal auf die Werft ein. Da wird geschliffen, gestrichen, getakelt. Ich möchte, dass sie sich mit dem Schiff auseinandersetzen, mit anpacken, die anderen kennenlernen. Es gibt Leute, die sind da richtig reingewachsen, die sind schon viele Jahre dabei. Manche schon als Schüler.
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So jung angefangen und immer noch dabei?
Immer noch dabei. Der Ole zum Beispiel hat letztes Jahr Abitur gemacht und hat vorher das Projekt Klassenzimmer unter Segeln auf der Theo Heyerdahl mitgemacht. Der ist jetzt seit drei Jahren bei uns, der kann alles, die ganzen traditionellen Gewerke. Oder letztes Jahr hatten wir einen Spanier, der eigentlich klassische Musik studiert hat, aber dann gemerkt hat, dass die Seefahrt eigentlich mehr was für ihn ist ...
... und der wollte nicht einfach nur Shanties singen ...
... nee, nee. Der hat richtig klassische Musik studiert in Barcelona und hat dann umgesattelt, hat nautische Patente gemacht, fährt aber immer nur auf Segelschiffen. Der ist dann mit seiner Freundin gekommen, einer Schottin, die auch nur auf Segelschiffen fährt. Das ist so eine kleine Community, die eben auf diesen klassischen Schiffen fahren will. Die interessieren sich nicht dafür, auf einer Yacht zu fahren, auf so einem Racer, darauf haben die keinen Bock. Die wollen oben im Bootsmannstuhl in der Takelage sitzen und klöppeln. Die waren sechs Wochen an Bord und haben von morgens bis abends gearbeitet. Wir haben auch Wissenschaftler dabei, die aber trotzdem wie jeder andere auch mit Segel setzen und Klo putzen müssen. Jeder hat so seinen Bereich, auf den er spezialisiert ist, aber trotzdem sind alle in der Gemeinschaft eng miteinander verzahnt. Das macht wirklich Spaß.
„Du kannst nicht immer nur zurückkommen und schöne Geschichten erzählen, sondern du hast auch die Pflicht des Chronisten, darüber zu berichten.“
Arved Fuchs
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Frauen an Bord ist auch beim Ocean Race ein großes Thema, es muss mindestens eine Frau in der Crew sein, beim Ocean Race Atlantic 2026 von New York nach Barcelona wird es 50:50-Crews geben. Du hattest neulich einen Podcast mit einer Meereswissenschaftlerin, die gerade in Tasmanien war. Wann hast du den Aspekt des Meeresschutzes für dich und deine Expeditionen entdeckt?
Das hat eine Vorgeschichte, die mit meiner Seefahrtszeit nach der Schule zusammenhängt. Damals gab es auf den alten Frachtschiffen einen sogenannten Schlammtank, in dem der ganze Dreck und Ölschlamm landete. Auf See wurde das einfach gelenzt. Damals gab es in den Seekarten sogar extra ausgewiesene Flächen, wo Tanker ihre Tanks waschen durften. Deshalb gab es damals überall diese Teerklumpen an den Stränden, die es heute Gott sei Dank nicht mehr gibt. Damals habe ich mir richtig Ärger eingehandelt, weil ich mich geweigert habe, diesen Schlamm zu lenzen.
Du konntest dich einfach weigern?
Eigentlich nicht, ich habe dann auch entsprechend Druck gekriegt. Ich habe gesagt, das können wir doch im Hafen abpumpen, aber die haben gesagt, das lass mal unsere Sache sein. Ich war damals Assi und hatte nicht viel zu sagen. Aber ich habe das nicht gemacht. Dieser Umgang mit der Natur hat mich sehr früh auf die Schiene gebracht zu sagen, du kannst nicht immer nur zurückkommen und schöne Geschichten erzählen, sondern du hast auch die Pflicht des Chronisten, darüber zu berichten. Ich habe früh angefangen, mich umweltpolitisch zu artikulieren.
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An Bord der Dagmar Aaen hast du verschiedene Laborgeräte, Drifter-Bojen, Argofloater, OceanPack – alles Geräte, die auch die Yachten beim Ocean Race an Bord haben. Welche Daten werden damit gesammelt und wie werden sie verarbeitet?
Das hängt immer von der verbauten Sensorik ab. Bei uns messen wir mit dem OceanPack den CO2-Gehalt des Meerwassers, den Salzgehalt, die Temperatur und das Phytoplankton. Die Geräte arbeiten vollautomatisch 24/7, und die Daten werden über einen Satellitenkanal direkt an das Geomar in Kiel geschickt. Dort sitzen dann die Experten, die die Daten auswerten.
Dann haben wir noch eine CCD-Sonde dabei, die wir bis auf 500 Meter absenken und die vier Mal pro Sekunde misst. So eine Sonde kostet vierzig- bis fünfzigtausend Euro. Die Winde haben wir selbst gebaut, die kurbeln wir mit einem Akkuschrauber hoch ...
… mit einem handelsüblichen Akkuschrauber?
Ja, haben wir uns selbst gebastelt. Man muss auch mal einfache Lösungen suchen. Die Daten werden dann auch über den Satelliten weggeschickt. Und wir sind offizielles Wetterschiff des DWD, die installierten Geräte messen Luftdruck, Temperatur und so weiter, die ganzen Daten gehen direkt in die Zentralrechner, wo sich dann die Wetterämter bedienen können. Mit den Argofloats und den Driftbojen arbeiten wir mit dem IOW in Warnemünde [Leibniz Institute for Baltic Sea Research] zusammen. Der Direktor Oliver Zielinski war auch beim letzten Ostseetag hier. Außerdem haben wir noch ganz analog ein „Eye on Water“ vorne am Klüverbaum, das die Trübung des Wassers visuell erfasst und Fotos macht. Eine Ingenieurin bei uns, die Jana, die bei SubCtech auch das OceanPack mitentwickelt hat, hat das noch ein bisschen verfeinert. Also auch hier die die Weiterentwicklung von Ideen mit archaischen Mitteln, die wir auf so einem Segelschiff zur Verfügung haben.
Einerseits diese modernen Hightech-Geräte, andererseits fahrt ihr mit der fast einhundert Jahre alten Dagmar Aaen raus. Warum eigentlich kein moderneres Schiff?
Viele halten das für einen Anachronismus. Aber ich sehe das ganz anders. Die Dagmar Aaen ist erst mal ein gutes Seeschiff, sie ist für so einen Einsatz gebaut worden. Die hatten damals 1931 keine Pläne, die haben einfach Modelle gebastelt und dann sind diese Schiffe gebaut worden. Die mussten raus und haben das Wetter genommen wie es kam und haben es überstanden oder nicht. Da gab es nicht viel Spielraum. Ich hatte schon ein Faible für diese Klasse, weil es auch eisgängig ist. Es sollte nicht zu groß sein, damit es wendig ist und auch bezahlbar. Aber vor allem hat es einen großen Vorteil: Wenn du mit so einem Schiff vor einem kleinen grönländischen Dorf vor Anker gehst, dann finden die Grönländer so ein Schiff erst mal cool. Wenn du da mit einer Hightech-Yacht ankommst, dann ist da so eine unsichtbare Trennwand, da trauen sie sich nicht ran. Aber so kommen die rübergepaddelt und sagen „Oh, ganz aus Holz, cool“ und dann lädst du sie zu Tee und Keksen ein und kommst mit ihnen ins Gespräch. Und eigentlich ist es auch kein Anachronismus, denn unter Deck haben wir modernste Navigationstechnik eingebaut, State of the Art.
Hier neben uns im Regal liegt der Sextant, mit dem du bis 1989 navigiert hast, als du damit zu Fuß zum Südpol unterwegs warst, dann kamen GPS und Satellitentelefon. Man kennt jederzeit den Standort und kann Kontakt zu anderen aufnehmen. Fühlt man sich im Vergleich zu früher dadurch weniger abgeschieden, wenn man fernab von jeder Zivilisation unterwegs ist?
Das ist eine trügerische Illusion. Teilweise kann es ganz schön nervig sein, wenn du zum Beispiel gerade bei Scheißwetter nachts um Kap Farvel an der Südspitze Grönlands herumfährst, und dann ruft plötzlich jemand aus dem Münchner Biergarten an und will gerne ein Interview mit dir machen, und ich muss ihm dann sagen, das passt jetzt gerade überhaupt nicht. Früher war das normal, dass du nicht erreichbar warst. Aber ich bin rübergewachsen in die andere Welt, wo alles digital und man letztlich omnipräsent ist. Das nimmt der Sache schon ein bisschen den Charme, muss ich sagen. Wenn ich früher weg gewesen bin, habe ich Brigitte gesagt, ich bin jetzt weg, wenn ich da bin, schicke ich ein Telegramm.
Und sie hat gehofft, dass ein Telegramm kommt.
Niemand wusste, wo du warst. Wenn ich trügerisch sage, weil viele Leute sagen, wenn etwas ist, dann drücke ich auf den Knopf. Aber gerade in der Arktis sind einige umgekommen, weil sie nicht gut vorbereitet waren, weil sie so schnell wie möglich mit wenig Gewicht und mit einem möglichst dünnen Zelt durch das grönländische Inlandeis laufen wollten. Dann kommt so ein Scheißwetter, alles fliegt weg und dann erfrierst du. Das geht innerhalb weniger Stunden. So schnell kommt da keiner hin. Das ist diese trügerische Sicherheit nach dem Motto, ich kann ja überall anrufen. Ja, klar kannst du mitteilen, dass du gerade am Erfrieren bist. Aber Hilfe kommt da eben nicht unbedingt.
„Die grönländischen Gletscher haben ihre Fließgeschwindigkeit teilweise verdoppelt. Durch den Eisschwund wird es zukünftig viel mehr Eisberge geben. Deshalb werden wir eine höhere Eisbergdichte haben als zur Zeit der Titanic.“
Arved Fuchs
2024 bist du nach 33 Jahren auf die Bäreninsel in der Barentssee zurückgekehrt. Hattest du eine bestimmte Erwartung, was du dort vorfinden würdest? Man kann dort ja auch nicht mehr so einfach an Land gehen.
Das ganze Prozedere ist ganz anders. Du bist Anfang der Neunziger dorthin gefahren und hast dich beim Sysselmann [oberster Repräsentant der norwegischen Regierung auf Spitzbergen] angemeldet. Der hat gesagt: „Schön, dass du da bist, viel Spaß“. Heute musst du für jede Anlandung eine Genehmigung einholen und vorher genau erklären, was du dort machen willst. Wir mussten für jedes Crewmitglied eine Rettungsversicherung abschließen, die man gar nicht so leicht kriegt. Für den Fall, dass jemand evakuiert werden müsste.
Ach, eine normale Auslandsreiseversicherung reicht für die Bäreninsel nicht aus?
(lacht) Nein. Das ist natürlich auch der Versuch, die Leute ein bisschen fernzuhalten. Das ist die administrative Seite. Ansonsten hatte ich nicht so große Erwartungen. Auch in den Neunzigern gab es dort im Sommer schon kein Packeis mehr. Wir waren damals Anfang Mai dort, da war es noch sehr winterlich. Das Anlanden ist nicht einfach, weil die Insel sehr exponiert mitten in der Barentssee liegt. Man hat dort normalerweise immer Wellengang und Brandung, dazu kommen die Klippen. Es gibt auch Sandstrände, aber dann muss das auch von der Windrichtung passen. Im letzten Sommer hatten wir bombastisches Wetter, sehr wenig Wind, es war eigentlich gar kein richtiges Segelwetter, daher man konnte überall anlanden.
Wir haben auf der Tour gemessen, dass die Wassertemperatur der Barentssee 3 bis 5 Grad über dem langjährigen Mittel lag, in der Spitze sogar 7,5 Grad. Dieser Temperaturanstieg ist wie ein Erdbeben. Das ist total erschreckend, dadurch hast du halt auch ein ganz anderes Wettergeschehen.
Das Meer wird wärmer und das Eis geht zurück. An der Ostküste Grönlands hast du zum Beispiel von Norden her einen kalten Einsstrom. Heute ist da im Sommer nichts mehr, da ist mehr oder weniger offenes Wasser. Die grönländischen Gletscher haben ihre Fließgeschwindigkeit teilweise verdoppelt. Durch den Eisschwund wird es zukünftig viel mehr Eisberge geben. Deshalb werden wir eine höhere Eisbergdichte haben als zur Zeit der Titanic.
Judith Schalansky,
„Atlas der abgelegenen Inseln“
Bäreninsel
Verleiden dir diese schlechten Nachrichten nicht die Expeditionen?
Das hat mich sehr getroffen, weil ich da nicht mit der Mission hingefahren bin, über irgendwelche Umweltthemen zu berichten, sondern weil ich es so geil fand, in dieser Landschaft unterwegs zu sein und mich ganz normal bewegen zu können. Du wirst über die Jahre zu einem guten Beobachter, denn diese Beobachtungsgabe ist deine Lebensversicherung. Du musst wissen, wann der Sturm kommt oder ob das Eis trägt, deshalb bist du sehr, sehr sensibel für Veränderungen. Dann merkst du, dass es in gewissen Zeitsprüngen dramatische Veränderungen gibt. Zehn Jahre sind in der Klimageschichte nicht mal ein Wimpernschlag. Aber dann ist da so viel passiert, dass es einem die Sprache verschlägt. Ja, das nimmt dir die Unbefangenheit.
In einem deiner Bücher habe ich ein Zitat von Sigga Sverissdottir gefunden, die auch zur Crew gehört: „Wenn ich im Leben festen Boden für meine Gedanken brauche, dann finde ich ihn auf dem schwankenden Schiff.“ Kannst du das nachvollziehen?
Das kann ich absolut nachvollziehen. Die Sigga kommt aus Island, hatte gerade Abi gemacht, war bei einem Jugendprojekt von uns dabei und ist seitdem dabei geblieben. Ja, es ist dieses Abnabeln von dieser komplexen Welt, in der wir leben. Man wird im wahrsten Sinne des Wortes geerdet. Dieser ganze Ballast, diese eitlen Versatzstücke, mit denen wir uns umgeben, die spielen überhaupt keine Rolle mehr. Wenn du bei schlechtem Wetter bist, sind andere Dinge elementar. Sigga war auch auf der James Caird II da hat sie auch gesagt: „Wenn du dich hier über kalte Finger beschwerst, dann gehörst du nicht hierher“.
Wie erlebst du das, wenn du von deinen Expeditionen hierher nach Bad Bramstedt zurückkommst?
Als ich damals anfing und mal zwei, drei Monate weg war, kam ich zurück und sagte: „Jetzt bist du geläutert, jetzt machst du alles ganz anders.“ Und nach einer Woche heulst du mit den Wölfen. Was ich sagen will: Du kommst zurück und bist so voller Bilder und Eindrücke, aber du merkst, du kannst nicht die eine Lebenswelt auf die andere übertragen. Es sind zwei verschiedene Lebenswelten, aber beide sind für mich immer ganz real und präsent. Im Laufe der Jahre ist mir dieser Übergang immer leichter gefallen. Ich bewege mich auf dem grönländischen Inlandeis mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie auf dem Hamburger Jungfernstieg.
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