ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Bäreninsel
Spitzbergen (Norwegen)
Arktischer Ozean | Barentsee
74° 26’ N | 19° 03’ O
NORWEGISCH Bjørnøya
178 km2 | 9 Bewohner
BEI TRÜBEM WETTER, aber hohem Barometerstand erreichen sie am 30. Juni 1908 um zwei Uhr morgens den Südhafen der Bäreninsel; sieben Vogelnarren auf dem Dampfer Strauß mit vier Präparatoren und einem Büchsenmacher an Bord. Hans Freiherr von Berlepsch, der Erfinder des Vogelschutzes, steht an Deck. Um den Hals trägt er das Fernglas und seit Barbarossas Gnaden fünf Sittiche im Wappen. Stumm horcht er in die Nacht, lauscht dem Brutgesang jener Vögel, die er bisher nur aus Büchern kennt. // Am Morgen schießen die Herren schon vom Dampfer aus Tranvögel und Lummen, eine junge Elfenbein- sowie eine ausgewachsene Mantelmöwe. Am Strand laufen Scharen von ausgebrüteten Bürgermeistermöwen hin und her. Die Vogelfreunde greifen sich eine Handvoll Junge, noch im grauen Flaum, und nehmen sie an Bord: zwei zum Großziehen, die anderen werden getötet und abgebalgt. Auf den Brutfelsen lauern die Alken. // Jemand erlegt eine Heringsmöwe, die sich bei genauerer Betrachtung als kleine Silbermöwe entpuppt. Ein anderer überlistet einen rotkehligen Taucher. Im Landesinneren entdecken sie eine langschwanzige Raubmöwe, sogar Trauerenten auf dem Eissee. Auf dem Kiesgeröll eines kleinen Baches schießen sie ein Halsbandregenpfeiferweibchen, und ein Schneeammerpärchen umflattert sie so aufgeregt, dass es sein Nest verrät, leider noch leer. Auch ein Schmarotzerraubmöwenpaar versucht, durch Flugkunststücke von seinem Nistplatz abzulenken. Tatsächlich finden sie Eier in einer flachen Moosmulde, im olivfarbenen Tarnkleid, mit dunklen Sprenkeln. Vier volle und ein halbes Gelege sammelt der Vogelbaron und trägt sie in Taschentüchern an Bord. Die anderen Herren erspähen den ersehnten Tordalk unter abertausend Lummen. Schüsse krachen, und ein Exemplar mit vollem Prachtgefieder stürzt tot auf die Wasserfläche. Der Beweis ist erbracht, sein Vorkommen auf der Bäreninsel belegt. Die Vogelfreunde sind zufrieden. Während sie ihre Beute begutachten, verschlingt am Strand eine Versammlung von Bürgermeistermöwen die Reste eines Walfischkadavers.
Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6
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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?
Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.
Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
© mareverlag, Hamburg
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