KolumneSegelnThe Race

ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Trindade

 

Trindade und Martim Vaz (Brasilien)

Atlantischer Ozean

59° 27’ S | 27° 18’ W

PORTUGIESICH Ilha da Trindade [›Dreifaltigkeitsinsel‹]

10 km2 | 32 Bewohner

 

 

 

DIESER Flecken ist ein topografisches Desaster. Alles ist in größter Willkür in den Ozean geworfen, zerfurcht, abschüssig und abweisend. Immer wieder kommt es vor, dass jemand auf einem Spaziergang spurlos verschwindet, von meterhohen Wellen weggespült, von einem Erdrutsch verschüttet oder von einem Krater verschlungen wird. Auf dem Friedhof erinnern Kreuze ohne Gräber an die Verschwundenen. Dieser Ort ist nicht für Menschen gemacht. // Am Mittag des 6. Januar 1958, kurz bevor das Forschungsschiff Almirante Saldanha den Anker lichtet, will Almiro Barauna, einer der Zivilisten an Bord, noch einige Landschaftsaufnahmen von der Südküste Trindades machen, als um 15 Minuten nach zwölf Uhr ein hell leuchtendes Objekt am Himmel auftaucht, das sich der Insel nähert und auf das Kap Crista de Galo zusteuert, in fledermausartigem, wellenförmigem Flug.// Der fliegende Diskus glänzt metallisch und ist von einem grünlich phosphoreszierenden Nebeldunst umwölkt. Völlig aufgebracht zeigen die Offiziere und Matrosen an Deck auf den gleißenden Punkt. 30 Sekunden vergehen, ehe Barauna endlich die Kamera nimmt, durch den Sucher schaut und zweimal abdrückt; dann taucht das Objekt hinter dem Gipfel des Desejado ab. Ein paar Sekunden später ist der Flugkörper, der offenbar eine Schleife geflogen ist, wieder zu sehen. Er scheint näher und größer als zuvor. Auf der Kommandobrücke herrscht Tumult, Barauna stolpert in der Menge, aber er macht vier weitere Fotos, ehe das unheimliche Flugobjekt etwa zehn Sekunden später in einer fernen Wolkenbank verschwindet, diesmal für immer.// Baraunas Aufnahmen sind überbelichtet. Vier der sechs Bilder zeigen das unbekannte Objekt in verschiedenen Flugpositionen. Mit dem Ring in seiner Mitte sieht es aus wie ein platt gedrückter Saturn. Zwei Fotos, die Barauna durch das Gerangel an Bord missglückt sind, zeigen nichts als die schiefe Reling, das Wasser und das dunkle Gestein der Küste, die sich mit starren Zacken steil aus dem Meer streckt, fremd und finster, wie aus einer anderen Welt.

Atlas der abgelegenen Inseln

Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6

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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?

Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.

Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 

© mareverlag, Hamburg
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