KolumneSegelnThe Race

ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Sankt-Paul-Insel

 

(Frankreich)

Indischer Ozean

38° 43’ S | 77° 31’ O

FRANZÖSISCH Île Saint-Paul

7 km2 | unbewohnt

 

 

 

AM 18. JUNI 187I STRANDET das englische Postschiff HMS Megaera auf einer der natürlichen Kiesmolen am Eingang des Kraters. Die schiffbrüchige Besatzung rettet sich an Land, wo sie von zwei Franzosen begrüßt wird. Sie stammen von der Insel Bourbon und sprechen kein Wort Englisch. // Einer der beiden nennt sich der Gouverneur. Er ist 30 Jahre alt und hat einlahmes Bein. Der andere, der sich als der Untertan vorstellt, ist fünf Jahre jünger und in einer hervorragenden körperlichen Verfassung, ein ausgezeichneter Kletterer, dem keine Felswand zu steil ist. Bereitwillig führt er die Gestrandeten über die Insel, während der Gouverneur vor einer Hütte am Kraterrand hockt. Der Untertan spricht von ihm ausnahmslos als von einem sehr guten Menschen. Der Gouverneur beschreibt seinen Untertanen immer nur als einen durch und durch schlechten Menschen. Nie haben zwei Menschen besser zueinander gepasst. Zusammen bewohnen sie eine winzige Holzhütte mit einer kleinen Bibliothek französischer Bücher. Seit einer Ewigkeit sind die beiden ein unzertrennliches Paar. Ihre Aufgabe ist es, vier kleine Boote, die im überfluteten Kraterbecken liegen, zu bewachen und Walfänger zu registrieren – für einen Monatslohn von 40 Francs. Aber so gut wie niemand landet hier an, in einer Gegend, die für ihre grausamen Stürme und zähen Nebel gefürchtet ist. // Enten, Ratten und wilde Katzen sind die einzig essbaren Tiere, die auf dieser Insel leben; und außer einem spinatähnlichen Salat wächst hier nur Moos, Farn und trockenes Gras. Einmal im Jahr kommen große Schwärme von Pinguinen, um ihre Eier in die kargen Grasbüschel zwischen den Felsen zu legen. Die riesigen Vögel haben eine weiße Brust, einen grauen Rücken, pink leuchtende Augen und auf den Köpfen goldene Federn. Sie sind sehr zutraulich, doch ihr Fleisch ist ungenießbar. // Früher soll hier ein Mulatte mit den Franzosen gelebt haben. Es heißt, dass der Gute und der Schlechte ihn ermordet und verspeist haben und seine Überreste in genau jener Hütte aufbewahren, die der Gouverneur tagein, tagaus bewacht.

Atlas der abgelegenen Inseln

Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6

~~~

Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?

Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.

Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 

© mareverlag, Hamburg
Artikelrechte erwerben