KolumneSegelnThe Race

ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Einsamkeit

 

(Russland)

Arktischer Ozean | Karasee

77° 29’ N | 82° 30’ O

NORWEGISCH Ensomheden

RUSSISCH Ostrow Ujedinenija [›Zurückgezogenheitsinsel‹]

20 km2 | unbewohnt

 

 

 

DIE EINSAMKEIT liegt im Nordpolarmeer – mitten in der Karasee. Diese Insel macht ihrem Namen alle Ehre: Öde und kalt ist sie, im Winter vom Packeis eingepfercht; bei 16 Grad minus liegt die Temperatur im Jahresdurchschnitt, im hohen Sommer steigt sie auch mal knapp über null. // Hier wohnt niemand. Eine alte Station liegt im Schnee versunken, verlassene Gebäude schlafen im Bauch der Bucht, mit Blick auf die zarte Nehrung hinterm gefrorenen Moor. // Der Halswirbel eines urzeitlichen Drachen wird gefunden. Ein paar Jahre später feuert ein Unterseeboot der deutschen Kriegsmarine Granaten auf die Wetterstation, zerstört die Baracken, tötet die Besatzung – das Unternehmen Wunderland schießt auf die Einsamkeit: eine der letzten Aktionen dieses Kommandos. // Als eine der größten Polarstationen der sowjetischen Union wird sie im Kalten Krieg wiederaufgebaut. Vergessen ist der Taufname, den der Kapitän aus Tromse diesem Flecken gab – aus der Insel der Einsamkeit wird im Russischen die Insel der Zurückgezogenheit. Ihr Besucher ist jetzt kein Gefangener mehr, sondern ein Eremit, der schweigend seine Eiswüstenjahre absitzt, bis er als Heiliger aufs Festland zurückkehren kann. // Der übrig gebliebene Proviant liegt tiefgefroren in der grünen Holzbaracke, vereist, wie die Geräte zum Messen des Luftdrucks, der Temperaturen, der Windrichtung, der Himmelsstrahlung und Wolkenhöhe. Der Auffangtrichter für den Niederschlag ist unter dem Schnee begraben. An der Wand mit Palmenmuster hängt ein Bild des kinnbärtigen Lenin. Im Logbuch sind die Wartungsarbeiten des Chefmechanikers akkurat vermerkt, der Öl- und Benzinstand der einzelnen Maschinen. // Der letzte Eintrag aber hält sich nicht an die Spalten, mit rotem Filzstift steht da: 23. November 1996. Heute kam der Befehl zur Evakuierung. Wasser abgelassen, Dieselgenerator abgestellt. Die Station ist ... Das letzte Wort ist nicht zu entziffern. Willkommen in der Einsamkeit.

Atlas der abgelegenen Inseln

Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6

~~~

Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?

Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.

Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 

© mareverlag, Hamburg
Artikelrechte erwerben