KolumneSegelnThe Race

ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Campbell-Insel

 

(Neuseeland)

Pazifischer Ozean

52° 32’ S | 169° 9’ O

ENGLISCH Campbell Island

113,3 km2 | unbewohnt

 

 

 

AM 8. DEZEMBER 1874 zieht sich der Himmel zu; in der Nacht darauf wird es wechselhaft und neblig. // Die Wahrscheinlichkeit, hier den Beginn des Venustransits beobachten zu können, lag bei 60 Prozent, und die, das Ende zu sehen, bei 30. Zu diesem Ergebnis war Capitaine Jacquemart gekommen, als er vor einem Jahr beinahe den gesamten Dezember auf dieser Insel verbracht, das Wetter beobachtet und einen geeigneten Ort für das Observatorium gesucht hatte. // Daraufhin hatte die Académie des sciences entschieden, das Ereignis hier beobachten zu lassen, und so verließ am 21. Juni eine mit reichlich Regierungsmitteln ausgestattete Expedition unter Leitung des Hydrografen Anatole Bouquet de la Grye den Hafen von Marseille. // Als die Campbell-Insel am 9. September endlich im Dunst auftauchte, stimmte der erste Eindruck die Männer traurig: ein trockener Flecken, nicht die Spur eines Baumes, im Norden eine Hochebene mit gelb gesträhnten Grasbüscheln, im Süden seltsam geformte Bergkuppen, dazwischen der Fjord der Perseverance-Bucht. // Am Vormittag des 9. Dezember weht der Wind von Nordwest und bringt gegen zehn Uhr kleine Schauer; der Himmel ist nun ganz und gar grau, bis die wärmende Sonne den Nebel ein wenig lichtet und sich im dichten Schleier endlich blass ihre weißliche Scheibe abzeichnet. Dann, fünf Minuten vor dem Eintritt der Venus, flaut der Wind ab. Bouquet de la Grye linst durch das Okular des Mittagsrohrs – und jauchzt laut auf, als er die dunkle Stelle am Sonnenrand wahrnimmt, fransig und weich – die Venus. Dann verdeckt eine mächtige Wolke das Jahrhundertereignis, mehr als eine Viertelstunde lang. Als sie vorbeigezogen ist, hat sich der Planet schon bis zur Hälfte vor die Sonne geschoben. Seine Umrisse zeigen sich nun vollkommen klar, ohne Lichtbrechung, ohne Aureole. Allerdings dauert dieser luzide Moment nicht länger als 20 Sekunden.// Dann ist alles vorbei. Dunstbänke steigen auf und machen es unmöglich, die Sonnenscheibe noch einmal zu erspähen. Als es Stunden später aufklart, ist die Venus längst im Taghimmel verschwunden.

Atlas der abgelegenen Inseln

Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6

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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?

Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.

Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 

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