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WORLD OCEAN REVIEW: Wettstreit um die genetische Vielfalt der Meere 
Der Beginn einer goldenen Ära

 

Das Leben im Meer hat im Lauf der Evolution eine beispiellose Vielfalt genialer Formen, Funktionen und Überlebensstrategien entwickelt. Daher versprechen Natur- und Wirkstoffe aus dem Meer Fortschritte und Profite in vielerlei Wirtschaftsbranchen. Allerdings ist noch weitestgehend ungeklärt, wer überhaupt von der genetischen Vielfalt des Ozeans profitieren darf, wie sie gerecht genutzt und vor allem wie ihr Schutz langfristig garantiert werden kann.

Die biologische Vielfalt des Ozeans ist einzigartig. Getrieben durch die zum Teil extremen Umweltbedingungen hat das Leben im Meer erstaunliche Wege gefunden, sich anzupassen. Die Informationen für die artspezifischen Überlebensstrategien sind im Erbgut der Meeresorganismen verschlüsselt, darunter zum Beispiel auch die Baupläne für die sogenannten Sekundärmetaboliten, welche marine Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien, Archaeen und Viren für diverse Zwecke produzieren – und die in der Regel schon in ganz geringer Konzentration eine große Wirkung entfalten.

Die neuen technischen Möglichkeiten haben zu einer Art Goldgräberstimmung geführt. 

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Abb.: Im Oktober 2017 recherchierten Wissenschaftler, wie viele Patente bis zum damaligen Zeitpunkt auf Erbinformationen von Meeresorganismen angemeldet waren. Sie zählten rund 13 000 genetische Sequenzen von insgesamt 862 Meeresarten, deren Nutzung patentrechtlich geschützt war.

Chemiker und Molekularbiologen interessieren sich deshalb besonders für Sekundärmetaboliten. Sie untersuchen marine Organismen auf diese bioaktiven – das heißt wirksamen – Moleküle und Inhaltsstoffe, extrahieren diese, beschreiben ihre chemische Struktur, erkunden ihre Funktion und suchen nach möglichen kommerziellen Verwendungszwecken als marine Natur- und Wirkstoffe. Dabei nutzen sie moderne DNA-Sequenzierungs-, Replikations- und chemische Analyseverfahren, die es ihnen mittlerweile erlauben, Probenmaterial innerhalb kurzer Zeit in vollem Umfang zu analysieren und alle enthaltenen Erbinformationen in digitaler Form zu speichern.

Diese neuen technischen Möglichkeiten haben zu einer Art Goldgräberstimmung in den eng miteinander verknüpften Forschungszweigen Marine Naturstoffchemie und Marine Biotechnologie geführt. Experten gehen mittlerweile davon aus, dass jeder Meeresorganismus möglicherweise genetische Informationen besitzt, die sich auf die eine oder andere Art in der Zukunft kommerziell nutzen lassen. Fachleute sprechen von einer goldenen Ära und schätzen, dass im Jahr 2025 weltweit pharmazeutische und chemische Produkte im Wert von 6,5 Milliarden US-Dollar gehandelt werden, deren Ursprung auf die genetische Vielfalt des Meeres zurückzuführen ist.

Marine Natur- und Wirkstoffe kommen heute bereits vielseitig zum Einsatz.

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Marine Natur- und Wirkstoffe kommen heute bereits vielseitig zum Einsatz – als pharmazeutische Wirkstoffe in 17 zugelassenen Medikamenten, als Nahrungsergänzungsmittel, als Düngemittel, als Rohstoff für die Kosmetikherstellung sowie für verschiedene andere industrielle Anwendungen. Ihr enormes Nutzungspotenzial wirft aber auch Fragen auf. Die drei wichtigsten lauten: Wer darf von den genetischen Ressourcen des Meeres profitieren? Wie können mögliche Wirkstoffe und erzielte Gewinne aus deren kommerzieller Nutzung allen Menschen zugutekommen? Und wie kann letztendlich angesichts des wachsenden wirtschaftlichen Interesses die biologische Vielfalt des Meeres wirkungsvoll geschützt werden?

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Abb.: Das blaue Blut des Atlantischen Pfeilschwanzkrebses (Limulus polyphemus) wird seit den 1970er-Jahren als Reinheitstest für neue Impfstoffe benutzt. Es enthält Abwehrzellen, die besonders empfindlich auf giftige Bakterien reagieren. Sind neue Impfstoffe mit diesen kontaminiert, attackieren die Zellen die Bakterien und bilden Klumpen. Gut für die Tiere: Mittlerweile gibt es eine synthetische Alternative zu ihrem Blut.

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Aus: World Ocean Review Nr. 7, 2021, Hamburg.

Lösungsansätze für den Zugang und eine nachhaltige Nutzung genetischer Ressourcen aus Meeresregionen unter nationaler Hoheit sind im sogenannten Nagoya-Protokoll angelegt. Ihre Umsetzung erweist sich in der Praxis jedoch als schwierig und behindert die Forschung eher, als dass sie diese vorantreibt.

Rechtliche Vorschriften für internationale Gewässer werden derzeit als Teilaspekt eines neuen globalen Abkommens zum Schutz der Biodiversität in internationalen Meeresregionen verhandelt – und zwar auf Ebene der Vereinten Nationen. Diese Verhandlungen ziehen sich bereits über Jahre, und die aktuelle Coronapandemie hat den Prozess weiter verzögert. Außerdem rücken infolge des technischen Fortschritts stetig neue Fragestellungen mit auf die Agenda. Es bleibt abzuwarten, auf welchen Kompromiss sich die internationale Staatengemeinschaft einigt – und ob dieser die Goldgräberstimmung weiter anfeuert oder ihr zum Schutz der Meere enge Grenzen setzt.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der maribus gGmbH.

Der mareverlag gründete 2008 die gemeinnützige Gesellschaft maribus, um die Öffentlichkeit für meeres­wissen­schaftliche Zusam­men­hänge zu sensibilisieren und somit zu einem wirkungs­volleren Meeres­schutz bei­zu­tragen. Kein kommerzieller Gedanke, sondern allein eine möglichst hohe Auf­merk­samkeit für die Belange der Meere sollte im Vordergrund stehen. Der „World Ocean Review“ ist eine einzigartige Publikation über den Zustand unserer Meere und spiegelt den aktuellen Stand der Wissenschaft wider. Alle WOR-Ausgaben können hier kostenfrei bestellt oder als PDF heruntergeladen werden: https://worldoceanreview.com/de/

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