KolumneSegelnThe Race

ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Süd-Thule

 

Südl. Sandwichinseln (Vereinigtes Königreich)

Atlantischer Ozean

59° 27’ S | 27° 18’ W

ENGLISCH Southern Thule 

36 km2 | unbewohnt

 

 

 

WO THULE LIEGT? Am äußersten aller Ränder. Am polaren Kreis. Kurz vor dem mit Brettern vernagelten Ende der Erde: der letzte Posten der bekannten Welt, eine Insel im hohen Norden, wo die See so finster und ungestüm ist, dass niemand dorthin fahren möchte, eine Tagesreise vom geronnenen Meer entfernt. // Nach Süden geht Commander Cooks zweite Reise. Er soll endlich die Terra australis finden, den mächtigen Kontinent, der sich auf den Weltkarten unermesslich weit erstreckt, eine riesige Landmasse in gemäßigtem Klima, reich an Bodenschätzen und zivilisierten Menschen: weltberühmt, doch incognita. // Im Januar 1775 fährt seine Resolution ein viertes Mal ins südliche Eismeer. Doch erneut zwingen sie gewaltige Schollenfelder und lose Eistrümmer zur Umkehr, und alle an Bord sind froh, als sie wenige Meilen jenseits des 60. südlichen Breitengrades wieder nach Norden steuern. Die Matrosen haben genug von dem nassen Nebelwetter und der bitteren Kälte, von den Arbeiten in der vereisten Takelage, von ständigen Erfrierungen und rheumatischen Schmerzen; manche fallen vor Erschöpfung in tagelang anhaltende Ohnmachten. // Plötzlich stoßen sie auf gefrorenes Land mit schwarzen Klippen, steil und voller Höhlen: in der Höhe von Seeraben bewohnt, in der Tiefe von tobenden Wellen gepeitscht. Dicke Wolken bedecken seine Berge, nur ein einziger beschneiter Gipfel ragt weit über sie hinaus, mindestens zwei Meilen hoch. Nach fünf Seemeilen liegt vor ihnen ein weiteres Gebirge, das südliche Ende dieses kargen Landes, vielleicht die nördlichste Spitze des gesuchten Kontinents, der – so viel ist nun sicher – nicht viel taugen kann, ein Festland mit Ruinen aus Firn und Eis, die niemals schmelzen: düster, kalt und schreckensvoll. Dieser Teil der Welt ist für immer zur Natur verdammt, in dichte Finsternis ein-gehüllt. Hier liegt das neue Thule, das andere Ende der bekannten Welt.

Atlas der abgelegenen Inseln

Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6

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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?

Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.

Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt. 

© mareverlag, Hamburg
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