ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Pitcairn
(Vereinigtes Königreich)
Pazifischer Ozean
25° 3’ S | 130° 6’ W
ENGLISCH Pitcairn Island
4,5 km2 | 40 Bewohner
ES GIBT KEIN BESSERES VERSTECK als diese Insel, fernab von den Handelsrouten, falsch verzeichnet auf den Karten der Admiralität. Sie haben gemeutert, ob zu Recht, darüber soll die Nachwelt richten. Eine Heimkehr gibt es nicht – nicht für diese Männer, nicht für ihre von Tahiti verschleppten Frauen. In England würde man sie einsperren, auf Pitcairn aber sind sie ausgesperrt. Hier zu bleiben, ist nur eine andere Art zu sterben, sagt Fletcher Christian, als sie abends am Feuer sitzen, einem Feuer, mit dem zwei der Matrosen in der Nacht die Bounty in Brand setzen, die Heimkehr verhindern, den Tod am Galgen. Master's Mate Christian wird Opfer einer zweiten Meuterei. Weitere werden folgen. // Ich möchte he-rausfinden, was mit den Seeleuten nach der Meuterei geschah. Warum gingen sie auf die Insel Pitcairn und brachten sich im Verlauf von zwei Jahren gegenseitig um? Was ist an der menschlichen Natur, das Männer selbst auf einer Paradiesinsel gewalttätig macht? Das ist es, was mich interessiert!, sagt Marlon Brando und lässt sich in einem rechtsverbindlichen Vertrag die künstlerische Kontrolle über eine Filmsequenz zusichern. Es ist die Sterbeszene Christians: Da liegt er, ist nur noch ein Kopf, zum Kinn reicht die hochgezogene Decke, die seine Brandwunden verhüllt. Das Gesicht ist nass vom Schweiß und voller rußiger Flecken, weiß leuchten die aufgerissenen Augen in der Dunkelheit, die Brauen heben, senken sich, und Marlon Brandos Mund fragt zitternd, ob er, Fletcher Christian, sterben wird. Eben war der Mann noch eine Diva mit Pomade und Parfüm, ein Dandy in der Südsee, der im seidenen Schlafrock oder Spitzenjabot mit blecherner Stimme und einer rosa Blüte hinterm Ohr durch das 70-Millimeter-Panorama schlendert und immer wieder seinen eingeübten britischen Akzent vergisst. Wie nutzlos, all das, sagt er jetzt. Das Gesicht friert ein, der Blick bricht. Die Kamera macht einen Schwenk, und die brennende Bounty versinkt im schwarzen Meer. Die glitzernden Vorhänge treffen sich in der Mitte. Der teuerste Film aller Zeiten ist zu Ende. Die Geschichte noch lange nicht.
Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6
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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?
Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.
Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
© mareverlag, Hamburg
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