ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Macquarieinsel
(Australien)
Pazifischer Ozean
54° 38’ S | 158° 52’ O
ENGLISCH Macquarie Island
128 km2 | 20–40 Bewohner
DIESER SCHROFFE, DAUERFEUCHTE Flecken ist niemals Teil einer Landmasse gewesen, sondern kommt direkt aus der Tiefe der See; er ist ein Stück Erdkruste vom Boden des Ozeans, das zufällig über den Meeresspiegel geschleudert wurde, die aus dem Wasser ragende Wirbelsäule eines unterseeischen Rückens. Hier, auf halbem Wege zur Antarktis, wo das warme Wasser des Nordens auf das kalte des Südens trifft, ist das Meer immer stürmisch und jedes Anlanden gefährlich. // Auch der Besatzung der Peacock gelingt es im Januar 1840 nur mit größter Mühe, die Insel zu erreichen, ohne dabei das Schiff zu verlieren. An Land durchkämmen die Männer die schroffe Natur, sammeln Exemplare der kargen Vegetation, und Lieutnant Charles Wilkes kommt zu dem Schluss: Die Macquarieinsel bietet keinerlei Anreiz für einen Besuch. // Nur der Seekadett Henry Eld ist überwältigt, als er allein hinunter zum Hurd Point wandert. In allen Buchten, an allen Stränden modern die Überreste der Wracks unter der schütteren Grasdecke, Schiffsgerippe im Meer der Pinguine, die zu Millionen die Insel bevölkern. Auch wenn er schon oft von den riesigen Mengen von Vögeln auf unbewohnten Inseln gehört hat, ist er auf diese ungeheure Masse nicht vorbereitet. Alle Seiten der zerfurchten Hügel sind buchstäblich übersät von ihnen. Noch nie hat er solch ein entsetzliches Geschnatter, Gekreische und Gequietsche vernommen, und er hätte sich nicht träumen lassen, dass irgendein Federvolk einen solchen Lärm machen kann. Von allen Seiten schnappen sie nach ihm, verbeißen sich in seine Hose, knabbern heftig an seinem Fleisch, sodass er zurückweicht, in die Enge getrieben. Mit bleichen Bäuchen, düsteren Gesichtern und gereckten Schnäbeln umzingeln die Gestalten den Eindringling. Immer mehr Vögel kommen näher – aufrecht, unerschütterlich und mit den würdevollen Schritten von strengen Rektoren –, bis Henry Eld in dem schwarz-weißen Feld gänzlich verschwunden ist.
Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6
~~~
Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?
Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.
Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
© mareverlag, Hamburg
Artikelrechte erwerben