ATLAS DER ABGELEGENEN INSELN
Bouvetinsel
(Norwegen)
Atlantischer Ozean
54° 25’ S | 3° 21’ O
NORWEGISCH Bouvevetøja
ENGLISCH veraltet Lindsay oder Liverpool Island
49 km2 | unbewohnt
SÜDLICH VOM KAPLAND dehnt sich ein weites Meer, ozeanografisch noch unerforscht. Gleich hinter der Agulhas-Bank brechen alle Lotungen ab. Mit weißem Tropenanstrich steuert die Valdivia nach Süden, nimmt einen Kurs, den seit mehr als 50 Jahren kein Schiff wählte. Auf den britischen Seekarten ist es eine unbeschriebene Fläche, mit nur einer einzigen unsicheren Angabe: ein kleiner Archipel unterhalb des 54. Breitengrades, von Bouvet gesichtet, der es für ein Kap des Südkontinents hielt. Weder Cook noch Ross, noch Moore fanden es wieder. Nur zwei Kapitäne von Walfischfängern haben die Inseln gesehen, doch ihre Positionen abweichend bestimmt. // Das Barometer fällt, der Wind erhebt sich zu schwerem Sturm, zehn Beaufort stark, und zwingt sie, beizudrehen. Der Himmel verdunkelt sich, und Sturmvögel ziehen auf, die ersten aschgrauen Albatrosse mit geschwärzten Köpfen und weiß geränderten Augenlidern, Vampire, die in gespenstisch ruhigen Kurven um das schwer arbeitende Schiff kreisen. Mehrmals packt die Dünung den Dampfer, schleudert ihn zur Seite, sodass in den Laboratorien die Glaskolben aus den Gestellen fallen. Regelmäßig dröhnt die Dampfpfeife, und die Eisberge, die sich im Nebel verstecken, antworten ihr helles Echo. Endlich erreicht die Valdivia die Region, in der die Admiralitätskarten drei Inseln verzeichnen: Bouvet, Lindsay, Liverpool. Tatsächlich ergeben Lotungen einen unterseeischen Rücken, und die Sonne formt am Horizont aus Wolkenwänden täuschend echtes Land. Von den Inseln fehlt jede Spur.// Am Mittag des 25. November 1898 kommt der erste große, majestätisch glänzende Eisberg in Sicht. 30 Minuten nach drei Uhr schreit der Erste Offizier: Die Bouvets liegen vor uns! Doch was erst in verschwommenen, bald in deutlich hervortretenden Umrissen nur sieben Seemeilen rechts vor ihnen liegt, ist keine Inselgruppe, sondern ein einziges steiles Eiland in wilder Pracht, mit schroffen Eismauern und bis zum Meeresspiegel abfallenden Gletschern, ein gewaltiges Feld aus Firn. Das ist sie, die Bouvetinsel, von drei Expeditionen vergeblich gesucht, seit 75 Jahren verschollen.
Mit freundlicher Genehmigung von Judith Schalansky und mareverlag, ©2009 mareverlag, Hamburg; ISBN 978-3-86648-683-6
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Die Crews an Bord der Rennyachten des Ocean Race rauschen an den entlegensten Inseln der Welt vorbei, ohne sie je zu betreten. Ob sie gerne einmal dort anlanden würden?
Mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln“ entführt uns Judith Schalansky zu Inseln „auf denen ich nie war und niemals sein werde“. Die Autorin erzählt die absurd-abgründigen Geschichten dieser Eilande, wie sie nur die Wirklichkeit sich auszudenken vermag.
Judith Schalansky hat mehrere ihrer Bücher selbst gestaltet und dafür Designpreise erhalten. So wurde sowohl ihr „Atlas der abgelegenen Inseln“ als auch „Der Hals der Giraffe“ mit dem 1. Preis der Stiftung Buchkunst bedacht. 2021 stand ihr Buch „Verzeichnis einiger Verluste“ auf der Longlist für den International Booker Prize sowie auf der Longlist für den National Book Award. Judith Schalanskys Bücher sind in mehr als 25 Sprachen übersetzt.
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